Irgendwann im Jahr 2014 fing es an. So genau lässt sich das gar nicht sagen. Und was schon bei der zeitlichen Einordnung nicht klappt, ist bei der Frage nach dem Grund erst recht nicht möglich. Die gerade erst vergangene Revolution auf dem Maidan und die darauf folgende Euphorie als Beweggrund vorzuschieben wird der Sache vermutlich nicht gerecht. Denn die Bewegung trieb und treibt sich selbst an. Innerhalb der Szene machten die Möglichkeiten der Stadt schnell die Runde. Und doch muss man, will man es richtig erzählen, noch einmal zum Maidan zurückkehren. Denn ohne die Erlangung eines neuen gesellschaftlichen Selbstbewusstseins und der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters, dessen Stadtverwaltung nicht gegen die Aktionen vorging, wäre der immer größer werdende Erfolg wohl ausgeblieben. Und so ist Kyiv irgendwann in den letzten zwei Jahren zur neuen Hauptstadt des modernen Muralismus geworden.
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Der Muralismus als Kunstrichtigung des 20. Jahrhunderts entstand während der mexikanischen Revolution, nachdem sich vor allem marxistische Künstler zusammen taten und die kahlen Wände der Arbeiterviertel mit politischen Botschaften und Kritik übermalten. Über den Sozialismus gelangten die Wandmalereien auch in den sowjetischen Realismus, und wurden zum festen Bestandteil sowjetischer Stadtgestaltung. Auch in Nordirland, vor allem in Belfast und Derry dienten Wandmalereien vor allem der politischen Botschaft. Erst die 1978 gegründete französische Vereinigung CitéCréation nutze die Stilrichtung nicht mehr zum Transport politischer Botschaften, sondern zur Rückeroberung des öffentlichen Raumes, Aufwertung des Stadtbildes und Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls der Bewohner im sozialen Wohnungsbau. Seither schufen sie in Lyon, aber auch in anderen Städten über 500 Wandmalereien, zu denen es heute Führungen für Touristen gibt.
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In der Ukraine durchlebt der Muralismus nun alle Stadien seiner bewegten Geschichte auf einmal. Er ist postrevolutionär, gesellschaftskritisch, höchst politisch sowie unpolitisch, urbanistisch und aufwertend zugleich. Verschiedene Künstler und Kollektive aus dem In- und Ausland bieten sich geradezu einen Kampf um das angesagteste Mural der Stadt. Fast wöchentlich entstehen neue übergroße Gemälde auf den grauen und tristen Wänden sowjetischer Gebäude, teilweise sogar denkmalgeschützter Häuser aus dem 19. Jahrhundert. Und so prallen folkloristischer Kitsch, revolutionärer Staatsgründer, Surrealismus und militaristischer Diktator auf den Wänden der Stadt aufeinander.
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Kritik gibt es natürlich auch an dieser Kunstform. Sie reicht von dem bloßen Vorwurf fehlenden Geschmacks, über Vandalismus bis hin zur Propaganda. Vor allem dann, wenn es um patriotische Symbolik oder unliebsame Personen aus der Vergangenheit geht. Besonders letzteres löst teils interessante historische Debatten aus und führt zu Forderungen nach einer neuen Einordnung in der nationalen Erinnerung. Doch die schärfste Kritik kommt von Künstlern und Kunstwissenschaftlern selbst und richtet sich nicht einmal gegen die neuen Wandmalereien, als gegen die Politik drumherum. Zeitgleich mit der Erschaffung der Murale werden im Rahmen der ohnehin umstrittenen Entkommunisierung Wandgemälde, Mosaike und andere architektonisch-künstlerische Elemente vernichtet, obwohl sie, anders als Denkmäler für Lenin oder NKWD-Größen in keinem Zusammenhang mit der Propagierung eines menschenverachtenden Systems stehen. Nach der selben Logik dürfte auch die Musik eines Genies wie Dmitri Shostakovich nicht mehr gespielt werden, doch in den Gesetzen und Verordnungen zur Entkommunisierung eine Logik zu suchen ist mehr als müssig.
Die Kunstwissenschaftlerin Yevheniya Molyar und die Architektin Daryna Nedozym führen noch einen weiteren Punkt ins Feld. Ihrer Meinung nach verfällt die Kunst bereits jetzt schon zur Ware, die lediglich dazu dient das Ansehen von Beamten und Politikern zu steigern, die sich damit profilieren Genehmigungen ausgestellt und den öffentlichen Raum bereichert zu haben. Damit wird die Kunst nur Mittel zum Zweck für den anstehenden Wahlkampf, unter dem, wie schon erwähnt, auch denkmalgeschützte Gebäude zu leiden haben. Als Negativbeispiel nennen sie den früheren Bezirksbürgermeister von Svyatoshyn und heutigen Stellvertretenden Bürgermeister Illya Sahaydak, der bis zu 150 Genehmigungen für Murale ausstellte und mit dem Argument der Stadtverschönerung seinen Wahlkampf führt.
Ungeachtet aller Kritik reißt der Strom der in die Stadt reisenden Künstler nicht ab. Kyiv hat es geschafft, die Herzen der Künstler zu erobern. Wer bei der großen Zahl der Bilder bereits den Überblick verloren hat, kann sich auf der Seite kyivmural.com orientieren, oder sich ein paar Exemplare im britischen Guardian ansehen. Mittlerweile gibt die Stadt sogar weitere Flächen zur Bemalung frei, sodass nun auch bunte U-Bahnen durch die Stadt rollen. Es bleibt zu hoffen, dass diese neue Art der Kunst der Stadt und dem Land gut tun.